Jeder Tag ist neu


A., 27, arbeitet in der Modebranche, studiert nebenbei Journalismus.

 

Bei mir begann Skin Picking vor ca. 3 Jahren. Ihn dieser Zeit litt ich auch noch an Bulimie. Rückblickend hat das Skin Picking quasi die Bulimie abgelöst. Denn nachdem ich das Erbrechen gelassen hatte, verschlimmerte sich der Drang, meine Haut zu bearbeiten. Zuerst habe ich nur im Gesicht gepult. Vor allem am Kinn und im Halsbereich kann ich es nicht lassen. Diese Stellen werden vor allem am Morgen (nach dem Aufstehen) und am Abend (meistens im Bett) analysiert und bearbeitet. Erst streiche ich über die Haut und wenn ich nur die geringste Unebenheit erfühle, muss ich sie entfernen.

Besonders wenn sich nach einem blutig ausgedrückten Pickel eine Kruste bildet, bekommt dieser nicht die Chance von mir, natürlich zu verheilen. Entsteht die Kruste, muss ich sie abrupfen oder abziehen, bis die Stelle fleischig, aber eben ist. Manchmal nehme ich auch eine Pinzette zur Hand. Alleine der Gedanke, dass es eine Unregelmäßigkeit oder Erhöhung in meinem Gesicht gibt, macht mich verrückt und unruhig.

 

Nach einer Weile habe ich dann auch am Dekolletee sowie Rücken und Po angefangen zu drücken und rupfen. Es gibt immer Phasen, da ist der Drang an einer Körperstelle besonders hoch. Auch eine Woche vor der monatlichen Periode sind die Picking-Phasen besonders intensiv. An allen Stellen habe ich viele Narben, die wahrscheinlich nie wieder richtig heilen werden, da ich gerade an den gleichen Stellen immer wieder Hand anlege.

 

Ständig nehme ich mir vor, es zu lassen und das scheint von außen betrachtet auch ganz einfach umsetzbar. Doch sobald ich anfange, meine Haut anzuschauen oder zu berühren, falle ich in dieses Muster und das Kratzen nimmt von ein paar Minuten bis zu zwei Stunden seinen Lauf – bis die Stellen rot und blutig, aber glatt sind.

 

Zu Beginn kratzte ich meistens in Situationen wie Stress, Druck in der Arbeit oder in der Familie, um Dampf abzulassen. Auch besonders schöne und glückliche Momente gehörten dazu. Eigentlich alle Gefühle und Situationen, die man als extrem einstuft, förderten den Drang zu pulen.

 

In der Zwischenzeit hat sich das bei mir als „natürliche“ Gewohnheit wie das Zähneputzen eingependelt. Es bedarf also keiner besonderen Situation mehr, um die Haut zu bearbeiten. Ob am PC, bei der Arbeit, vor dem Fernseher oder in einer Runde unter Freunden – die Hand gleitet ganz automatisch!

 

Mich mitteilen tue ich das erste Mal, indem ich das hier schreibe. Natürlich haben enge Freunde oder Ex-Partner meine Wunden und Narben schon gesehen, doch keiner hat mich je so richtig darauf angesprochen. Wenn ich meine Mutter besuche und sie mich beim Bearbeiten des Gesichts sieht, kommt immer der Kommentar: „Lass doch das Pulen an deiner Haut!“

 

Einfacher gesagt als getan. Aber: Nachdem ich zufällig diese Seite hier entdeckt habe und weiß, dass ich nicht ganz allein bin, ist es schon etwas besser geworden. Ich versuche, nicht mehr zu kratzen, sondern nur noch über die Stellen zu streichen oder zu reiben. Das reicht mittlerweile oft schon und die Haut wird deutlich weniger brutal angegriffen. Auch die Narben nicht so oft im Spiegel anzuschauen oder im Bett die Hände zu einer Faust zu ballen hilft mir immer öfter, eine Knibbel-Session gar nicht erst zu beginnen.

Als Kontaktlinsenträgerin reinige ich mein Gesicht mittlerweile nun immer am Morgen vor dem Reinmachen und am Abend erst nach dem Rausmachen der Linsen. Das verhindert, dass ich die Stellen und Narben genauer sehe.

 

Auch Aktivitäten, die mit dem Körper zu tun haben und verhindern, die Haut zu bearbeiten, helfen mir sehr. Demnach mache ich viel Sport, bastle und male in meiner Freizeit, um meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Das tut meiner Seele und meinem Körper gut, meine Hände sind beschäftigt und kommen gar nicht erst auf die Idee zu wandern.

 

Ich denke, am wichtigsten ist es aber, sich nicht selbst zu sehr unter Druck zu setzen. Auch Selbstmitleid und die Frage „wieso ausgerechnet ich?“ halte ich langfristig für sinnlos.

 

Jeder Tag ist neu, an jedem Tag hat man die Chance, etwas Gutes für sich zu tun und auch den kleinsten Fortschritt sollte man honorieren und sich regelmäßig auf die Schulter klopfen. Und wenn es mal nicht klappt, dann ist das auch okay.

 

Nobody ist schließlich perfekt.

 

(Januar 2015)

Copyright skin-picking.de