Flächenbrand


C., 19, Schülerin

 

Seit ungefähr 2 bis 3 Jahren kratze, drücke, beiße ich an meiner Haut rum und momentan ist es schlimmer denn je. Neue Wunden, neue Narben, neues Brennen unter Baumwolle und Leinen.

 

Früher hatte ich so Angst vor Schmerzen, dass ich mich nicht mal getraut habe, einen Pickel auszudrücken und es ganz schrecklich fand, meiner Mutter dabei zuzusehen. Brannte meine Haut aus irgendeinem Grund, habe ich Creme einmassiert, hatte ich einen Sonnenbrand, habe ich meine Haut ebenso gut gepflegt. Es waren allgemein Schmerzen - bei einem Stich im Bauch oder Kopfschmerzen dachte ich sofort an die schlimmste Krankheit. Drückte ich vorsichtig auf einen Pickel, wäre ich fast im Dreieck gesprungen.

 

Das hat sich ja schlagartig geändert - warum auch immer. Tut ein Pickel heute weh, ziehe ich mit der Pinzette die oberste Hautschicht ab. Es tut nicht mehr weh, ich kenne die Angst nicht mehr. Die Scham hat sie abgelöst.

 

Bisher war mir nicht bewusst, dass es sich tatsächlich um eine Krankheit handelt, wenn man sich täglich regelrecht an der eigenen Haut vergreift – aber was soll es dann auch sonst sein?

 

Meine Haut war immer schon sehr empfindlich, zudem leide ich unter einer Verhornungsstörung, durch die ich ohnehin viele kleine Pickel an den Armen und Oberschenkeln habe. Inklusive kleiner roter Punkte, die vor allem im Licht zu sehen sind. Oder wenn ich Sport mache und sie richtig anfangen zu leuchten, die Pickel und die Wunden leuchten dann gleich mit. Mittlerweile ziehe ich zum Sport grundsätzlich eine Jogginghose und ein langärmliges, dünnes T-Shirt an. Es geht nicht anders.

 

Körper abtasten, kein Pickel bleibt unbemerkt, keine Wunde ohne Schorf, Blut, Blut, Blut. Manchmal bleibt das Bluten unbemerkt, aufgesogen von der Kleidung, am nächsten Morgen in der Bettwäsche entdeckt. Das Gefühl, wenn zwischen den abgekauten Fingernägeln die Hautschicht über einem Pickel aufplatzt und weißer Talg oder Eiter hinaustritt. So ekelerregend. Das Gefühl, den Schorf von Wunden zu kratzen, die einen seit Monaten begleiten und erneut das frisch austretende Blut mit Fingern abzustreichen. Oder die Lippen ansetzen, es ablecken, es raussaugen. Die Haut um Fingernägel abziehen, abreißen, Ecken und Kanten von Fingernägeln abzukauen, versuchen noch zu retten.

 

Ein Tabu, darüber zu sprechen.

 

Ich kann nicht mehr. Dieser Wahn, in den man reingerät, wenn man einmal damit angefangen hat. Nicht aufhören zu können, einen Pickel acht- oder neunmal ausdrücken. Dann das unsägliche Brennen, wenn man die Kleidung darüber zieht. Dieses Versagen, diese Scham für sich selbst. Die Wunden, die zurückbleiben, die vielen Narben, die fragenden Blicke anderer Menschen, die missbilligenden Blicke meiner Familie – „Du musst das nicht tun!“ - und doch, ich MUSS!

 

Aber ich will nicht, ich kann einfach nicht mehr.

 

Schuld habe ich meiner Verhornungsstörung gegeben. Sie ist der Grund, dass ich die Pickel habe, die danach schreien, ausgedrückt zu werden. Ich habe mir Creme dagegen gekauft - mit 12 % Urea. Das ist Harnsäure. Säure auf meine geschundene Haut! Nein, es wurde nicht besser. Meine Mutter sprach schon immer von SVV (selbstverletzendem Verhalten), aber nie mit dem nötigen Ernst. „Hör auf damit, das ist Selbstverletzung! Warum tust du das?“, „Ich weiß es nicht, nein, es ist keine Selbstverletzung.“ Ende der Diskussion.

 

Und dann habe ich es gestern doch bei Google eingegeben: „ständiges Aufkratzen von Wunden“ - Dermatillomanie, Acne exicorée, Compulsive Skin Picking, Skin Picking Disorder.

 

Viele Menschen mit denselben Leiden, immer dasselbe Verhalten, dasselbe „Krankheitsbild“, dieselben Symptome, derselbe Ablauf. Viele, die genauso wenig Ahnung hatten wie ich, dass es eine Krankheit ist. Eine Zwangsneurose.

 

Ich war erschrocken, mir traten fast die Tränen in die Augen, ich war verwirrt, angeekelt von mir selbst, wollte mir wie so oft die Haut vom Körper ziehen, endlich eine gesunde, eine reine, weiche, schön anzusehende, anzufühlende Haut haben.

 

Stattdessen fing ich wieder an, meine Haut zu bearbeiten. Wie immer. Die üblichen Tiefpunkte.

 

Ich weiß, wo meine Wunden am Körper sind. Ich weiß, welche wie groß ist, welche öfter blutet, welche weniger. Ich kenne die Epizentren meiner Haut. Aber als wäre das noch nicht genug, pellt sich die Haut meiner Kopfhaut ständig ab, Schuppen, so viele Schuppen. Ich bin längst auf neutrales Shampoo umgestiegen: Babyshampoo. Nein, keine Änderung. Soviel probiert und doch immer wieder gescheitert.

 

Arzt? Kein Hautarzt, bitte! Ich möchte nicht. Niemand, niemand darf die bloßgestellte Haut so sehen, am helllichten Tag. Nachts, im Dunkeln, da darf man alles sein, da darf man mit einem Menschen schlafen, da darf man im Top durch den Tanzclub springen, mit dem Licht, mit einer Masse, der Alkohol fließt und man fliegt, man fliegt, kein Brennen auf der Haut, unter der Haut, keinen Drang verspüren, sich dieser Schändigung hinzugeben, nur Menschen und dann der eine, der mich nicht liebt, den ich nicht liebe, aber meine Haut glühte so schön unter ihm.

 

Kaputt. Ich bin kaputt. Tagsüber möchte ich nicht raus. Verkriechen, Filme gucken, Bücher sammeln, gelegentlich Seiten aufschlagen und sehen, was für interessante Sätze man erwischt. Im Selbstmitleid, Selbsthass und Verrat versinken. Es gibt mich tagsüber kaum, nur für die wenigsten Menschen. In der Schule sitzen, über sich ergehen lassen. Keine Tops und T-Shirts in der Sommerhitze. Einschränkungen.

 

Baldige Lederhaut im Alter von 19 Jahren?

Der Neid, dieser hasserfüllte Neid auf die Schönheit der Haut der anderen.

Was soll man denn sagen?

Was soll man tun?

 

Manchmal, da schaffe ich es, ein oder zwei Wochen meine Haut nicht anzurühren. Die Wunden verheilen fast ganz. Narben, rote Punkte bleiben, Pickel kommen immer neu. Irgendwann gibt man dem Drang doch wieder nach. Anfängliche Hoffnung, die schließlich zerbricht.

 

Bin ich krank? Soll ich dazu stehen? Soll ich meine Arme zeigen? Soll ich meinen Körper zeigen?

 

Ich sage mir: Im Sommer wird es besser, wenn ich mit meinem Rennrad fahre, in T-Shirts, ja, weil mich auf meinem Rennrad niemand erreicht! Da bin ich, da habe ich etwas, was mir niemand nehmen kann, nicht einmal die schönste, begehrteste, intelligenteste, glücklichste Frau dieser Welt. Es ist mein Rennrad, mein Status, mein Podest, mein gutes Gefühl, mein Selbstwert, mein Bewusstsein, meine Geschwindigkeit, mein Atem, meine Tränen, mein Lachen.

 

Und fahre ich dann der Sonne entgegen, habe ich keinen Drang mehr, meine Haut zu missbrauchen. Sie pulsiert und verheilt unter gesunder Ernährung, Schweiß, frischer Luft und Sonne. Täglich.

 

Die Hoffnung, dass es gut ausgeht, dass ich es irgendwann nicht mehr brauchen werde, dass ich meine Haut für ihre Beschaffenheit nicht mehr bestrafen muss und mich gleichzeitig selbst mit bestrafe, weil ich meinem Körper keinen Respekt entgegenbringe.

 

Es ist doch mein Körper. Mein Bild.

 

(März 2011)

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