Verfallsdatum


E., 22, Studentin aus Bayern

 

„Hey, wollen wir am Dienstag zusammen auf 'ne Faschingsparty gehen?“

„Au ja!“

„Wir müssen uns natürlich auch verkleiden. Da gibt’s ein Motto 'Berühmte Personen'. Du könntest doch als Amy Winehouse gehen. Ich hab schon nachgeschaut, was die so anzieht, nicht zu viel, also viel Haut. ;-) Du hast bestimmt ein schwarzes Top und ne knappe, kurze Jeans oder?“

 

Ja, das habe ich. Ich kaufe mir immer wieder Tops und Kleider. Seit Jahren. Obwohl ich sie nicht anziehen kann. Ich lege sie in eine Ecke des Kleiderschranks und hoffe, dass der Tag kommt, an dem ich sie tragen kann. Es ist für mich ein Zeichen, nicht die Hoffnung zu verlieren.

 

Ich sehe meine Haut vor mir: Oberarme, Rücken, Dekolleté, Gesicht; vernarbt, verkrustet, zum Teil eitrige Stellen unter dem Schorf … Das darf niemand sehen. Auch die Freundin nicht, die mit mir ausgehen will.

 

„Hey du, ich seh' grad in meinem Terminkalender ich hab Dienstag doch keine Zeit. Sorry … findest bestimmt noch ne andere Freundin für die Faschingsparty.“

 

Ich lege auf. Ich bin traurig. Fahre mit meiner Hand den linken Oberarm entlang – DA! Eine Unebenheit! Eigentlich sieht man sie kaum. Ich taste sie mit meinen Fingerspitzen ab, zwicke die Stelle leicht zwischen zwei Fingernägel ein, drücke, steche mit einer Nadel hinein, quetsche die Stelle mit einer Pinzette … klare Gedanken erreichen mich nicht mehr.

 

Als wäre eine Glasglocke über mich gestülpt worden. Da sind nur noch ich, Acné excoriée und meine Haut. Alle Warnsignale und vernünftigen Gedanken wie „Hör auf“ prasseln an der Glasglocke ab. Meine Probleme und Sorgen sind fern. Ich bin wie in Trance, konzentriere mich zu 100 Prozent auf meine Haut, der Druck weicht.

 

Ich, AE und meine Haut – ein immer währender Teufelskreis, der mich hinabzieht in einen Strudel aus Wut, Hass, Verzweiflung, Scham, Depression … wir drehen uns schneller und schneller … Haut aufkratzen, zerquetschen, Eiter rausdrücken, mit Nadeln einstechen, mit einer Pinzette den Schorf wegzupfen, mit einer Nagelschere die Haut aufritzen, Blut …

 

… WUMM! Die Glasglocke wird weggezogen. Alle Warnungen und Vorwürfe prasseln auf mich nieder. Ich sehe, was ich getan habe, starre entgeistert auf die zerdrückten, blutenden, roten Hautstellen. Wut, Hass und Scham ergreifen mich. Ich habe es wieder getan. Das darf keiner sehen. Niemals! Niemand würde das verstehen. Ich ziehe eine Jacke über. Der Stoff kratzt an den offenen Wunden; ich spüre ein leichtes Brennen.

 

Manchmal gehe ich dennoch mit der Freundin in eine Disko. Wenn ich mich nicht verkleiden muss, wenn ich auch ein T-Shirt anziehen kann. Dann betäubt mich der Alkohol, so wie mich AE betäubt, nur besser. Ich werde locker, ich werde "eine Andere“. Eine Person, die alle lieben. Um die ein Kreis gebildet wird, wenn sie tanzt, die die Tanzfläche beherrscht wie sonst niemand.

 

Es ist fast wie eine Verwandlung. Ich liebe es, wenn diese Andere zum Vorschein kommt. Und meine Mitmenschen lieben das wohl auch. Diese Andere hat kein AE, keine Probleme, keine traurigen Gedanken, Sie ist hübsch, fröhlich, beliebt, lebenslustig. Sie ist alles, was ich nicht bin, aber ich so gerne wäre.

 

Ich denke, das Verfallsdatum eines Menschen im Bezug auf eine Freundschaft rückt näher, je weniger Unterhaltungswert dieser Mensch bietet. Zumindest ist das bei mir so. Mit der Absage der Faschingsparty bin ich wohl meinem Verfallsdatum näher gekommen, so wie schon viele Male zuvor. Es gibt keine heißen Disconächte mehr, keine „Andere“, keine jubelnden, betrunkenen Männer, die einen Kreis bilden, wenn ich tanze ...

 

… aber mich und AE, uns gibt es noch. Und wird es wohl auch immer geben.

 

(Mai 2011)

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