Ein editorieller Hinweis: Dies Interview ersetzt nicht den persönlichen Arztbesuch! Es gibt auch nicht zwingend die Meinung der Seiten-Betreiberin wieder, sondern dient
lediglich der Information.
Unter dem Text findet ihr einen Link zum Skin-picking Forum, wo ihr über die Aussagen in diesem Interview diskutieren könnt.
Zur Person: Monika Neumann-Justen, geboren 1950, ist Psychotherapeutin und praktizierte von 1975 bis Ende 2011 als Hautärztin. Von 1996 bis 2000 absolvierte die Bonnerin eine von den gesetzlichen Krankenkassen anerkannte Zusatz-Ausbildung zur Psychotherapeutin. Sie ist spezialisiert auf tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (auch als psychodynamische Psychotherapie bekannt), schließt in ihre Arbeit aber auch verhaltenstherapeutische Elemente ein. Auf Antrag übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen unter bestimmten Umständen die Kosten für diese Therapieform (Hinweis: Dafür gibt die Betreiberin der Webseite aber keine Gewähr).
Frage: Frau Neumann-Justen, als Sie noch als Hautärztin arbeiteten: Wie oft haben sich Patienten an Sie gewendet, die unter Skin-picking oder Acné excoriée leiden?
Monika Neumann-Justen: Meist habe ich die Patienten selbst auf Skin Picking angesprochen, von sich aus kommen sie nicht darauf zu sprechen. Acné excoriée ist eine sehr schambesetzte Angelegenheit. Aber es sind nicht nur Akne-Patienten: Zum Beispiel habe ich standardmäßig vor Eingriffen, bei denen sich in der Heilungsphase eine Kruste bildet, immer nachgefragt: Sind Sie ein „Piddler“? Denn dann musste ich davor warnen, an der Operationsnarbe zu knibbeln. Und 15 bis 20 Prozent sagten dann: ja, sie knibbeln an Krusten herum.
Das ist eine überraschend hohe Zahl.
Dabei muss man allerdings beachten, dass die Zahl nicht repräsentativ ist: Es handelt sich ja um Hautarzt-Patienten, also nicht um den Bevölkerungsdurchschnitt. Und bei vielen bewegt sich das Verhalten noch im gesunden Bereich – nicht jedes Piddeln oder Pickel ausquetschen ist gleich krankhaft.
Wo würden Sie die Grenze zwischen normal und krankhaft ziehen?
Dort, wo der jeweilige Mensch unter den selbst zugefügten Wunden leidet. Wo es ihn selber stört und in seiner Lebensqualität beeinträchtigt.
Wenn die Zahl der Betroffenen so hoch ist: Warum speisen viele Hautärzte Betroffene einfach mit einem Akne-Medikament ab und kommen nicht auf das eigentliche Thema zu sprechen? Erkennen die das Problem nicht?
Sie können mir glauben: Wenn man wie ich ein jahrzehntelang als Hautärztin gearbeitet hat, sieht man sofort, ob jemand nur Akne hat oder selbst noch die Wunden vergrößert beziehungsweise zufügt. Aber das Besprechen solcher Dinge mit dem Patienten erfordert Zeit – und die ist leider rar in der heutigen Zwei-Minuten-Medizin.
Es gibt aber auch Hautärzte, die haben eine psycho-dermatologische Zusatzausbildung. Die können eine „psychosomatische Grundversorgung“ anbieten und mit den Krankenkassen abrechnen. Allerdings muss ich betonen: Das ist wirklich nur eine Grundversorgung im zeitlich sehr geringen Umfang, nicht zu vergleichen mit einer Psychotherapie.
Wie erfahre ich denn, welche Hautärzte diese Zusatz-Ausbildung haben?
Die kassenärztlichen Vereinigungen der jeweiligen Region müssten Listen haben, da diese Leistungen ja dort abgerechnet werden.
Für wie schwerwiegend halten Sie die Erkrankung, die man Acné excoriée, Dermatillomanie oder auch Skin Picking nennt?
Das ist individuell sehr unterschiedlich. Manche drücken ein bisschen und leiden nicht besonders darunter. Am anderen Ende der Skala steht eine schwere Erkrankung: Betroffene fügen sich selbst tiefe Hautwunden zu, so genannte Artefakte. Hier muss zweifellos psychotherapeutisch oder psychiatrisch behandelt werden. Dazwischen gibt es eine Vielzahl von Ausprägungen. Für die gravierenderen Krankheitsbilder ist „Acné excoriée“ meines Erachtens ein geschönter Begriff. Er bezeichnet ja nur eine Unterform der Akne.
Sehen Sie in Skin-picking eine „Impulskontrollstörung“?
Das wäre für die meisten Fälle wiederum zu hoch gegriffen. Von Impulskontrollstörung würde ich nur sprechen, wenn durch das Kratzen tiefe Krater entstehen, die bleibende Narben hinterlassen.
Der klassische Fall einer Störung der Impulskontrolle ist ein junger Mann, der mit seiner Wut nicht umgehen kann und kurzerhand die Wohnung zertrümmert oder im Streit anfängt zu prügeln.
Bei Acné excoriée geht es aber vor allem um junge Mädchen und Frauen, die ihre Wut nach innen richten. Wut nach außen zu zeigen, ist bei Mädchen sehr tabuisiert. Die Sozialisation setzt schon im frühesten Kindesalter ein.
Ist Wut der einzige Grund?
Meistens. Es kann aber auch Nervosität oder reine Spannungsabfuhr sein. Ein Beispiel: Der Abschluss eines anspruchsvollen Studiums ist das eigentliche Ziel in der Zukunft. Aktuell absolviert man eine belastende Praktikums-Situation um dieses höhere Ziel zu erreichen. Den aufgebauten Druck reagiert man an der Haut ab.
Schwerwiegender wird es, wenn jemand sich durch das Haut-Aufkratzen unbewusst hässlich macht. Um seiner Umwelt zu sagen: „Bleibt mir vom Leib! Ich will euch nicht!“ Dahinter steckt meist eine Selbstwert-Problematik, die therapeutisch bewusst gemacht werden muss.
Welche therapeutischen Ansätze sind vielversprechend gegen AE? Oft wird Verhaltenstherapie empfohlen.
Die klassische Verhaltenstherapie arbeitet auf der Ebene der (Um)-Gewöhnung. Eine Weiterentwicklung, die kognitive Verhaltenstherapie, hofft auf Einsicht. Bei ausgeprägten Fällen wird man aus meiner Sicht auch auf der Gefühlsebene arbeiten müssen.
Trainingsmethoden wie „Habit Reversal Training“ oder „Entkopplung“ etc müssten dann ja wirkungslos sein.
Nicht wirkungslos, aber, wie gesagt, Verhaltenstherapie allein greift oft zu kurz. Der innere Drang zum Kratzen als Ausdruck von Autoaggression (auf sich selbst gerichtete Wut) ist zu groß. Auf der Suche nach den Quellen der Wut ist es sinnvoll, auch die Biographie anzusehen. Aber zum Glück sind die Grenzen fließender geworden. Die Methoden nähern sich aneinander an. Die meisten Verhaltenstherapeuten bauen heutzutage auch tiefenpsychologische Elemente in ihre Arbeit ein, so wie ich umgekehrt auch verhaltenstherapeutische Elemente verwende, wo es passt.
Es ist auch völlig unmöglich, sich vorzunehmen „ich will nicht mehr kratzen!“ Jedes Mal, wenn man sich das sagt, versteht das Unterbewusstsein nur „kratzen!“ Das macht es meist nur schlimmer. Besser ist es, die Energie umzulenken statt zu unterdrücken. Die Frage ist: Was könnten Sie machen, anstatt zu kratzen?
Was denn zum Beispiel?
Gut ist alles, was die Finger beschäftigt. Das macht es unmöglich, währenddessen an die Haut zu gehen. Zum Beispiel Brot backen, joggen, stricken oder kochen.
Klingt aber ziemlich aufwendig.
Man kann auch einfach ein Spielzeug für die Hände verwenden. Zum Beispiel eine islamische Gebetskette oder Qi Gong-Kugeln. Wenn Sie beispielsweise beim Lesen merken, dass mit der rechten Hand die Haut nach Unebenheiten zum Aufknibbeln abtasten, nehmen Sie statt dessen einen solchen Gegenstand in diese Hand.
Man trickst sich also gewissermaßen aus.
Ja. Das geht übrigens auch mit Peeling. Zumindest, was die Akne-Fälle angeht: Immer, wenn der Knibbel-Drang übermächtig wird, mit dem Peeling großflächig die Haut abschleifen: zehnmal kreisförmig mit den Fingern über die jeweilige Hautpartie fahren. Das ist weniger schädlich für die Haut als Kratzen. Keine Sorge, Sie können es sogar auf frischen Pusteln verwenden!
Durch Peeling werden die abstehenden Schüppchen abgeschabt, die sonst zum Kratzen verleiten. Außerdem lernen Sie ein alternatives Handlungsmuster, das Ihnen beweist: Sie können etwas tun, Sie sind Handelnde und sind Ihrem Drang nicht hilflos ausgeliefert.
Ich empfehle ein Peeling auf Basis von Aluminiumoxid. Die dreieckigen Peeling-Partickelchen lösen sich während der Anwendung nicht auf. Das garantiert eine stärkere Wirkung. Leider gibt es solche Peelings nicht mehr auf Rezept, sondern nur freiverkäuflich in der Apotheke.
Macht so viel Peeling – manche würden es dann ja mehrmals täglich verwenden - die Haut nicht viel zu trocken?
Im Winter vielleicht. Aber Sie können Peeling bedenkenlos täglich anwenden, zum Beispiel morgens unter der Dusche, wenn Sie danach immer eine leichte Feuchtigkeitscreme auftragen. Dann werden Sie mit trockener Haut kaum Probleme bekommen. Am besten eine Creme für empfindliche Haut nehmen und bitte keine Anti-Falten-Creme! Die bewirkt nämlich, dass sich die Haut mit Wasser voll saugt. Sie verschließt die Poren und sorgt so dafür, dass noch mehr Pickel entstehen.
Reichen solche Tricks, um Acne excoriée zu besiegen?
Für sich genommen, wohl kaum. Oder nur in den leichten Fällen. Diese alternativen Handelsmuster schaffen vor allem erste Entlastung. Schon allein das Aussprechen der Tatsache „ja, ich kratze“ gegenüber einer Vertrauensperson ist für die meisten unglaublich erleichternd und lindernd. Die oft lange Zeit verheimlichte Krankheit wird auf einmal besprechbar und weniger bedrohlich, einfach „normaler“.
Oft empfehle ich allerdings eine psychotherapeutische Behandlung mit dem Ziel, seine Gefühle zu erkennen und unterscheiden zu lernen. Viele können zum Beispiel Angst nicht von Wut unterscheiden. Schon indem man über Gefühle redet, werden sie sozusagen gezähmt, können eine sozial verträgliche Form annehmen.
Was halten Sie von so genannten Achtsamkeitsübungen, bei denen man lernt, seine Gefühle wahrzunehmen?
Achtsamkeit finde ich auch einen guten Ansatz. Dabei reflektiert ein Mensch über sich selbst und lernt, sich selbst etwas Gutes zu tun und sich zu mögen. Das ist auf keinen Fall verkehrt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Ingrid Bäumer. Copyright: skin-picking.de
Peeling als alternative Handlungsform zum Knibbeln - kann das funktionieren?
Und braucht es mehr als "nur" reine Verhaltenstherapie, um von Skin-picking los zu kommen? - Was meint ihr dazu?
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