Ich sah eine alte Frau


Ich war 17 und saß im Kreis von Weltverbesserern, schräg rechts von mir eine alte Frau. Während die anderen debattierten und organisierten, wie man am besten weit entfernte und doch so nahe Regimekritiker vor der Folter rettet - sei es durch Briefe an Diktatoren oder die Beschaffung von Spendengeldern -, bearbeitete diese Frau hingebungsvoll ihre Fingerkuppen.

 

Sie zog an kleinen Hautfetzen, ganz versunken in die Betrachtung ihrer rosa-blutroten Finger. In alles Überstehende grub sie ihre kurzen, aber kräftigen Fingernägel, ohne sich große Mühe zu geben, diese Aktion vor uns anderen zu verbergen. Sie zog und zerrte, bis es noch mehr blutete. Ihre Kuppen waren übersät von rosa-suppenden Miniaturwunden. Wie ekelhaft, dachte ich. Ob es die anderen auch bemerkt haben? Keiner sagte etwas dazu.


Im Kreis wurde diskutiert, wie man die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Schicksal asiatischer und afrikanischer Dissidenten lenkt, die eingesperrt und gefoltert werden, nur weil sie ihre Meinung sagen.

 

Einen Informationsstand auf dem Markt aufstellen - an dem sowieso wieder alle vorbeigehen? Mit einer Demo - zu der eh nur ein versprengtes Häufchen erscheint? Wir machen beides! Ist zwar viel Arbeit, aber wenn dadurch nur ein Gefangener schneller befreit wird, hat es sich schon gelohnt.


Die alte Frau hörte aufmerksam zu, auch wenn sie ständig mit ihren Fingern beschäftigt war. Als es daran ging, Aufgaben zu verteilen, zückte sie ihren Terminkalender: „Ich habe keine Zeit! An dem Tag bin ich beruflich voll eingebunden! Ein andermal gerne - tut mir so Leid!“ Die anderen verteilten die Arbeit unter sich, während die alte Frau innerhalb einer Stunde fünfmal betonte, sie sei so gefragt und ausgebucht, dass sie eigentlich gar nicht helfen könne.


Ich glaubte ihr kein Wort. Wer sieht schon gerne zu, wie eine alte Frau ihre Fingerkuppen malträtiert? Was sollen das für ach-so-wichtige Termine sein? Dates mit ihrem Dermatologen? Bei der Maniküre, die das Schlimmste wieder richtet?

 

Ich nahm mir vor, niemals so zu werden wie sie. Dass ich damals an meinen Teenager-Pickeln herumdrückte, konnte ja nur eine vorübergehende Phase sein.

 

Die Frau habe ich nie wieder getroffen. Vielleicht hat sie meine angewiderten Blicke bemerkt und sich geschämt.


23 Jahre später: Ich habe einen Job, der viel Zeit raubt. Treffen von Weltverbesserern besuche ich schon lange nicht mehr. Mein Gesicht zerwühle ich, meine Fingerkuppen reiße ich auf. Arme, Beine und Rücken sind mit dunklen Narben gesprenkelt.

 

Diese Frau war über 50. Bleiben mir also noch 11 Jahre, nicht so zu werden wie sie. Wenn ich es bis dahin nicht schaffe, sollte ich aufgeben: Dann ist es nicht mehr lang bis zum Seniorenheim - mit dem Knibbeln habe ich dann zumindest einen kurzweiligen Zeitvertreib und muss nicht nur vor der Glotze hängen.

 

(Dezember 2010)

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